Zum Thema Schmerz und besonders chronischer Schmerz kursieren seit Jahren viele Irrtümer.
Die australischen Forscher Butler und Moseley (2017) sind führend in der internationalen Schmerzforschung und schaffen es, die komplexen und komplizierten Mechanismen in Gehirn und Körper gut verständlich zu erklären.
Für Patienten in dem Buch: "Schmerzen verstehen" und für Therapeuten und Ärzte in dem aktuellen Werk "Explain Pain Supecharged" (siehe Literaturliste) finden sich diese Informationen ausführlich und verständlich aufbereitet.
Im Folgenden möchte ich die 10 Zielkonzepte aus dem Werk "Explain Pain Supercharged" (verändert nach M.E. Moog, 2018) zitieren:
1. Schmerzen sind real, individuell und normal! - Jede Schmerzerfahrung ist echt - es gibt keinen eingebildeten Schmerz! Schmerz ist eine Antwort auf etwas, das unser Gehirn als für uns bedrohlich einstuft.
2. Es gibt keine "Schmerzrezeptoren" - es gibt nur "Gefahrenmelder" - es gibt weder "Schmerzsensoren", Schmerzbahnen" noch "Schmerznervenendigungen" !!!
3. Schmerz und Gewebeschäden hängen selten zusammen! - Schmerz ist ein nur unzuverlässiger Hinweis darauf, ob und in welchem Umfang ein Gewebeschaden vorliegt.
Schmerz und Gewebeschaden können unabhängig voneinander auftreten.
Gerade bei den sogenannten "funktionellen Beschwerden", bei denen keine morphologischen Schäden vorliegen müssen, ist ein Blick durch die "bio-psycho-soziale" und "Schmerz-edukative" Brille sinnvoll!
4. Schmerz ist abhängig vom Verhältnis zwischen Gefahr und Sicherheit! Kommen also mehr Signale für Sicherheit oder für Gefahr im Gehirn an und wie interpretiert das Gehirn diese Informationen?
Schmerz entsteht, wenn das Gehirn mehr Hinweise auf Gefahren als auf Sicherheiten erkennt. Das Gehirn wird eingreifen um zu beschützen.
5. Schmerz ist mit weiträumigen Aktivitäten im Gehirn verbunden. - Es gibt kein "Schmerzzentrum" im Gehirn! Schmerz ist eine bewußte Erfahrung, die zeitgleich viele Gehirnzentren aktiviert.
6. Schmerz ist immer abhängig vom Kontext. - Schmerz wird von Menschen, Wahrnehmungen, Handlungen, Worten, Gedanken sowie von Vorgängen im Körper beeinflusst.
7. Schmerz ist nur einer von vielen schützenden Outputs/Reaktionen des Körpers.
Wenn der Körper bedroht wird, kann er mehrere Schutzsysteme aktivieren:
a) die Schmerzmatrix
b) das Immunsystem
c) das Hormonsystem
d) das vegetative Nervensystem
e) das motorische System
f) das kognitiv-emotionale System
g) das Atemsystem
!!! JEDES dieser Systeme kann überfürsorglich (sensibilisiert) reagieren!!!
8. Der Mensch ist "bio-plastisch" - wie wir seit geraumer Zeit wissen, ist das Gehirn plastisch, es verändert sich bis ins hohe Alter. Genauso ist der gesamte Mensch bio-plastisch, sämtliche Schutzsysteme a) - g) des Körpers können sensibilisiert und Dank der Bioplastizität wieder desensibilisiert werden.
9. Ein besseres Wissen über den Schmerz ist Therapie - man nennt es "Schmerz- Edukations - Therapie" und sollte einen großen Teil der Behandlung von chronischen Schmerzpatienten einnehmen.
10. eine aktive Behandlungsstrategie verbessert die Erholung/ die Genesung. - Wer seinen Schmerz und sich Selbst und seine Grenzen und Möglichkeiten besser verstehen lernt, kann aktiv an seiner Genesung mitarbeiten durch:
a) gut dosierte "evolutionäre" Bewegung
b) gut dosierte ressourcenorientierte manuelle Behandlungen
c) vernünftige Ernährung
d) Schlaf, Pausen und Erholung
e) Abbau von "drohenden Gefahren in mir" (DIMs)
f) Entdecken von "Sicherheiten in Mir" (SIMs)
Ein Arzt/Therapeut/Coach/Psychotherapeut kann helfen, die "DIMs" und "SIMs" zu erkennen, und den Fokus auf die Ressourcen zu lenken.
Das Credo der modernen multimodalen Schmerztherapie lautet deshalb: "Ein Schritt auf diesem neuen Weg wäre die fundierte Förderung der Gesundheitskompetenz sowie das ressourcenorientierte Training der körpereigenen Intelligenz des Patienten." (M.E. Moog, 2018)
Dies wird heute schon in vielen Praxen umgesetzt, benötigt aber viel Zeit, Vertrauen, Geduld und Transparenz.
Die ressourcenorientierte Physiotherapie und die Ortho-Bionomy® integriert diese Vorgaben schon seit Jahren.
Quellen:
Moog M.E., Ein Plädoyer für chronische Schmerzpatienten; Der Schmerzpatient 2018; 1: 112-122)
Butler D.S.; Schmerzen verstehen, 3. Aufl. 2016, Springer Verlag
Moseley L., Butler D.S.; Explain Pain Supercharged, 2017, NOI Group